Ich habe die erste Nacht in einer Art Trucker Gaststätte verbracht. Ich bin mir vorgekommen wie in einem amerikanischen Motel. Die ganze Nacht über hat mir der riesige Werbemast von draussen ins Zimmer geleuchtet. Den lidschäftigen Rollo konnte ich gestern abend noch dazu bewegen, sich herabzulassen. Aber heute Morgen finde ich nicht heraus, wie sich das blöde Ding wieder in die Höhe ziehen lässt.
Es ist ein herrlicher Morgen und es verspricht ein richtig guter Tag zu werden! Nach einem perfekten Frühstück, das ich in dieser Form nicht erwartet hatte, empfängt mich draussen kalte und frische Luft mit glasklarem Sonnenschein. Die wenigen dunklen Wolkenfetzen wissen schon jetzt, dass sie keine Chance haben, und machen sich innerhalb der nächsten halben Stunde aus dem Staub.
Ich befinde mich in Sachsen-Anhalt, nördlich von Magdeburg. Während meiner weiteren Fahrt nach Norden gibt es praktisch keinen Verkehr. Ich habe den Eindruck, dass mehr Bauern auf ihren Traktoren unterwegs sind, als mir Autos begegnen. Einzig immer wieder Radfahrer, aber auch deren Anzahl hält sich in Grenzen.
Die Maschine folgt kleinen, verträumten Strassen durch dichten Wald. In und um das Gelände des ehemaligen sowjetischen Militärflugplatzes Mahlwinkel kann man heute mit schwerem russischem Gerät wie ausgemusterten Panzern und Lastwagen seinen Spieltrieb ausleben und die Fahrzeuge durch die Wälder jagen.

- Was’n da los? Panzer fahren? Ich habe doch schon einen Panzer!
Kurz vor Mittag erreiche ich Tangermünde. Tangermünde ist ein verschlafenes Städtchen an der Elbe, in der Altmark südöstlich von Stendal. Auf dem hiesigen Wohnmobilstellplatz, den ich mir als Startplatz für meine weitere Elbe-Erkundung ausgesucht hatte, gibt’s für mich erstmal einen Schokoriegel und eine Ration Wasser. Die Wohnmobilisten, die hier Station machen, schlappen kurzhosig entspannt zwischen ihren fahrbaren Behausungen hin und her und halten Schwätzchen. Einige Hunde dürfen unter den schattigen Bäumen auf dem Elbe-Deich um die Wette laufen. Auf der Bank am Hafen politisiert ein kleiner Trupp einheimischer Rentner. Ein Angler kommt vorbei und gesellt sich dazu.

- Verschlafenes Tangermünde.
Wenn ich jetzt einen Campingstuhl hätte, würde ich nicht mehr weiterfahren, sondern einfach jetzt, in genau diesem Moment, in genau dieser entspannten Stimmung, an diesem schönen Fleckchen, genau um die Mittagszeit, mit einem kühlen Bier „den Tag beschliessen“.
Leider habe ich kein Stühlchen dabei, und so präge ich mir beim Blick auf die Landkarte nochmal einige wesentliche Punkte meiner weiteren Strecke ein. Natürlich wird mich das Navi meinen vorprogrammierten Wünschen entlang führen. Aber ich brauche im Kopf eine Vorstellung, noch besser ein konkretes Bild von der Gegend, in der ich mich bewege. Ansonsten komme ich mir vor wie ein „Ferngesteuerter“, der zwar sein (Tages-)Ziel erreichen wird, letztlich aber gar nicht weiss, wo er sich aktuell befindet, was es um ihn herum gibt, und der darüber hinaus dabei auch noch an vielen lohnenswerten Haltepunkten vorbeigedonnert ist.
Der knurrige Zweizylinder der Yamaha darf jetzt also wieder ran, und der Verlauf der Elbe stromabwärts bestimmt ab sofort seinen und auch meinen weiteren Tagesmarsch. Kurz hinter Arneburg führt die Strecke durch ein erdrückendes Industriegebiet mit technischen Anlagen in Aussmassen, wie ich sie noch selten erlebt habe. Der überdimensionale Gebäudewürfel auf der rechten Strassenseite „versteckt“ wohl die Bauruine des Kernkraftwerks Stendal, das einmal das grösste Kernkraftwerk der DDR werden sollte. Zum Glück wurde es nach der Wende nie fertiggestellt, denn die geplante russische Technik war schon damals veraltet.
Auf der Fähre „Sandau“ gleite ich geräuschlos hinüber nach Sandau zum rechten Elbe-Ufer. Aber geräuschlos ist nicht gleichzusetzen mit antriebslos. Den Antrieb übernimmt hier, gleichsam wie bei einigen anderen Fähren, der Fluss selbst durch seine Strömung. Der Fährmann muss nur das Schiff in den richtigen Winkel zum fliessenden Wasser stellen, dann drückt die Elbe das Boot vor sich her, und weil die Fähre an einem Seil in der Flussmitte „angekettet“ ist, „schwingt“ sie einfach von einem Ufer zum anderen und später mit neuer Ladung wieder zurück. Genial einfach und einfach genial! Manchmal ist weniger einfach mehr.
Aus Berlin kommend schmiegt sich die Havel an die Elbe an, und kurz vor ihrer Mündung hat sich heute das Städtchen Havelberg ganz besonders herausgeputzt. Kurze Stadtrundfahrt und im Hafen ein Eis am Stiel, dann tuckert die Yamaha kopfsteingepflastert auf kleinsten Strässchen durch schattige Alleen, damit wir uns mit der nächsten Fähre wieder hinüberschwingen können zum linksseitigen Ufer, von Brandenburg nach Sachsen-Anhalt.

- Auf kleinsten Strässchen wieder zur Elbe.
Heisse Felder erstrecken sich durch die Altmark bis zum Horizont, immer wieder jedoch aufgelockert durch kühle, kleine Wäldchen zum Pause machen. Für die Menschen der ehemaligen DDR sicherlich unbefriedigend, für uns alle heute ein wahrhaftiges Glück, dass durch den sozialistisch bedingten Stillstand in der infrastrukturellen Entwicklung sich die Natur in ihrer kaum zu erfassenden Vielfalt bewahren konnte. Weisskopfseeadler gibt es hier. Und immer wieder queren Störche höchstpersönlich meinen Weg oder beäugen mich kritisch von ihren hohen Nestern auf Kaminen oder Strommasten.
Nur kurze Zeit später geleitet mich die perfekt asphaltierte B 189 über die neue Brücke wieder zurück ins brandenburgische Wittenberge. Weiter hinter den Elbdeichen nach Lutkenwisch und auf einem perfekt getarnten Weg, den man fast nur für einen Radweg halten könnte, wieder runter zur Elbe. Drüben am anderen Ufer krallt sich Westdeutschland an Sachsen-Anhalt fest. Schnackenburg ist die östlichste Gemeinde Niedersachsens und gleichzeitig auch die kleinste Stadt Niedersachsens mit ca. 600 Einwohnern. Vor der Wiedervereinigung erlangte das verschlafene Städtchen eine gewisse Bedeutung als Grenzstatdt und Zollstation für die Schifffahrt in die DDR. Einen öffentlichen und geregelten Fährverkehr gab es jahrzehntelang nicht. Der real existierende Sozialismus, die sozialistische Eiszeit, hatte auch hier alles eingefroren.
Ich sitze alleine am Ufer und schaue hinüber auf das verträumte Backsteinrot von Schnackenburg, dieses Mal geht der Blick in den „kapitalistischen Westen“. Drüben löst sich gerade die Fähre, um herüber zu kommen, und mich aufzunehmen. Ich bin froh, dass ich als freier Mensch jederzeit und ohne Einschränkung zwischen den deutschen Staaten hin- und her pendeln kann. Einer ganzen Generation war dies nicht möglich, ja, die Trennung verlief manchmal nicht nur zwischen Ländergrenzen, sondern die Perversion hatte ihre chirurgischen Schnitte sogar mitten durch Ortschaften gezogen! Wir krank sind wir manchmal?

- Schnackenburg voraus!
Und so lande ich als einziger Fahrgast „im Westen“ an. Ich fühle mich ein bisschen seltsam, wie ein Wanderer zwischen Zeiten, zwischen Generationen, zwischen Kulturen. Wie einer, der als Fremder Neuland betritt und nicht so recht weiss, was er als nächstes tun soll. In mir hat sich eine geradezu mystische Stimmung ausgebreitet. Die Maschine stolpert zwischen kleinen, geduckten Häuschen durch winzige Strassen. Kaum ein Mensch lässt sich blicken. Verschlossene Türen aus dunklem, schwerem Holz. Gehäkelte Vorhänge. Einsamkeit und Leere wie in einer Geisterstadt. Gibt es hier überhaupt eine Menschenseele? Einzig das Grenzlandmuseum scheint nochmal einzuladen zu einem Intensivtauchgang in das deutsch-deutsche Grauen.