Am Donnerstagmorgen kündigt sich die baldige Ankunft durch ein verschärftes Hauen und Stechen am Frühstücksbuffet an. Jeder will sich vor dem Ausladen noch einmal den Bauch vollschlagen. Als eine der Kaffee-/Teemaschinen ausfällt, droht Meuterei. Während ich Baked Beans und Scrambled Eggs mit der einzigen Tasse Tee herunterspüle, die ich ergattern konnte, sind aus dem Fenster bereits die schneebedeckten Gipfel der isländischen Küste zu sehen. Nach dem Räumen der Kabine stecke ich zwangsläufig in voller Montur und halte es nur noch an Deck aus. Der Seyðisfjörður empfängt uns mit schneebedeckten Hängen und rauschenden Wasserfällen unter einem bleiern überzogenen Himmel.

- Die isländische Küste taucht auf

- Einfahrt in den Seyðisfjörður
Auf dem Autodeck verfluche ich meinen riesigen Gepäckberg. Um meinen Fährenrucksack zu verstauen, muss ich beide Gepäckrollen herunternehmen, öffnen und alles neu verzurren. Schweißgebadet und genervt rolle ich von der Fähre und durch den verwinkelten, überfüllten Hafen von
Seyðisfjörður auf die Straße nach
Egilsstaðir.
Die Straße windet sich schnell auf eine noch völlig schneebedeckte Hochebene. Der Ausblick auf den See Lagarfljót, über dem gerade ein Regenschauer niedergeht, vermittelt einen Eindruck von der rauhen Landschaft, die mich die nächsten drei Wochen erwartet. Der Pass Hellisheidi (917) ist wie befürchtet gesperrt, also geht es über die Ringstraße 1 und die 85 durch weite, leere Täler und über karge Hochebenen nach
Vopnafjörður. Auf der Karte ist dort ein Campingplatz verzeichnet, aber ich registriere im Vorbeifahren nichts.

- Blick auf den See Lagarfljót
Vopnafjördur ist das erste von einigen Dörfern heute, von denen ich mir denke: Hier sind Hund und Katz verreckt, hängen jetzt tot überm Zaun und langweilen sich sogar dabei noch. Ein Hafen mit stinkender Fischfabrik, einfache, einstöckige Häuser. Während ich bei der Bank Geld abhebe, sehe ich zum ersten Mal Menschen – einer, der sein Auto fünf Minuten im Leerlauf stehen lässt, während er was abholt. Ein anderer geht wort- und blicklos vorbei, eine Frau hält mit dem Auto vor der Post und bleibt erstmal darin sitzen.
Also weiter entlang der 85 durch eine flache, unspektakuläre Küstenlandschaft. In
Bakkafjörður muss ich wieder an Hund und Katz denken, aber immerhin erkenne ich den Campingplatz: ein aufgemotzter Rastplatz mit sanitären Anlagen in einer kleinen Hütte – aber kostenlos. In der Ortsmitte sind ein paar Jugendliche mit Warnwesten und überschaubarem Engagement dabei, die Wiese zu mähen. Anderswo sehe ich das gleiche Bild. Nach Bakkafjördur hört der Asphalt auf, und es geht über eine etwas rumpelige Lehm-/Schotterstraße weiter. In der Bucht bei
Fell halte ich an, um mir ein paar Handvoll Studentenfutter einzuwerfen. Auf meiner isländischen Karte ist hier ein Dorf verzeichnet - außer dem Gehöft, wie in Google Street View zu sehen, ist hier aber nix. Mir fällt erstmals die totale Stille auf. Während bei uns immer irgendein Flugzeug oder fahrende Autos zu hören sind – hier gibt es außer meinem Tinnitus gar nichts zu hören. Während ich so im Gras sitze und auf die stille Bucht schaue, wird mir klar, dass ich von der Reizüberflutung, die ich von zu Hause gewohnt bin und die bis vor wenigen Stunden auf der Fähre noch herrschte, erstmal eine Entziehungskur machen muss, um dieses Land richtig wahrnehmen zu können.

- Pause bei Fell im Nirgendwo 1

- Pause bei Fell im Nirgendwo 2
Þórshöfn ist ein etwas größeres Kaff mit einer etwas größeren Fischfabrik und Campinplatz mitten im Dorf. Ich verwerfe die Idee, einen Kaffee zu trinken, was sich auf den langen Geraden Richtung Raufarhöfn rächt – ich muss aufpassen, dass ich nicht beim Fahren einschlafe.

- 15 Minuten Pause an der #874 nach Raufarhöfn: Zwei Autos kommen vorbei.
Außerdem kriecht jetzt doch die Kälte des Fahrtwindes durch alle Kleidungsschichten. Als letzte Option habe ich noch Wollunterwäsche im Gepäck – ich kann nur hoffen, dass diese genug Wärmeschutz bietet oder die Temperaturen im Laufe des Trips ansteigen. Einstellig bei Wind und ständigem Nieselregen ist jedenfalls nicht optimal. Wie auch immer, müde und unterkühlt laufe ich schließlich in Raufarhöfn ein. Am Campingplatzschild fahre ich erstmal vorbei – in der Hoffnung, dass es ein Hinweis auf einen „richtigen“ Campingplatz weiter hinten ist, statt nur für die kleine, runde Wiese hinter der Grundschule. Am Ortsende sehe ich ein, dass dem nicht so ist, kehre zu der Wiese zurück, stelle mein Zelt auf und lege mich erstmal hin.

- Auf dem Zeltplatz in Raufarhöfn
Nach dem Schlummer ein Spaziergang durchs Dorf, um die Knochen etwas aufzuwärmen. Man könnte „The Walking Dead“ hier ohne größere Veränderungen filmen. Kein Mensch zu sehen, viele der Häuser verlassen. In einem leerstehenden und zerbröckelnden Haus steht im ehemaligen Wohnzimmer ein Schlagzeug. Eine Bruchbude, vor der ein Lexus-SUV parkt. Die Tankstelle ist ein Automat, das dazugehörige Gebäude jetzt eine „Kunstgalerie“ und Café ohne Kundschaft. Den Laden erkenne ich erst auf den zweiten Blick – Öffnungszeiten 10.30h bis 12h und nachmittags.

- Leerstehender Wohnblock

- Leerstand als Proberaum?

- "Kunst" und ein modernes "Stonehenge" zur Beobachtung der Mitternachtssonne - wenn es nicht so trüb wäre
Am Hafen steht auf einem verwitterten Zweckbau „Hótel“ - laut Reiseführer soll ein DZ hier über 100 Euro kosten. Weiter hinten eine Kirche, danach kommt der Weg zum Leuchtturm auf der Halbinsel vor dem Hafen. Die einzige Action machen die Regenpfeifer, die aufgeregt piepend vor mir herflattern. Menschen, die nicht in Autos sitzen, scheinen sie nicht oft zu Gesicht zu bekommen. Entschleunigen – wenn das hier nicht klappt, dann nirgends.
Fortsetzung folgt...